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Die falsche Urgroßmutter


Mein über mehrere Jahre angelegtes Fotoprojekt besteht darin, dass ich in vielen Ländern aller Kontinente Menschen, die sich nicht kennen, aber zufällig am gleichen Ort zur gleichen Zeit befinden, als Familie fotografiere.

Als kleiner Junge ertappte ich meinen Vater, wie er das fehlende Fotoporträt meiner Urgroßmutter auf der dicht bestückten Ahnenwand im Wohnzimmer kurzerhand durch ein anonymes, auf dem Flohmarkt ersteigertes Foto einer alten Dame mit strengem Blick ersetzte und mit Begeisterung sagte: das passt doch wie die Faust aufs Auge! Die Lücke war damit gefüllt, der Fotostammbaum wieder ordentlich und lückenfrei. Manchmal dachte ich mir, dass mein Urgroßvater ja durch Zufall auch dieser Frau hätte begegnen, sie lieben und vielleicht auch heiraten können.

Der Gedanke, die Zufälligkeit des Lebens als Thema fotografisch umzusetzen, schlummerte schon seit einiger Zeit in meinem Kopf. An einem hellen Morgen des Jahres 2005, ich war gerade in Tokio, packte ich meine Kamera, ging auf die Straße und fing an, Familien zu erfinden, indem ich mir einzelne Passanten von der Straße herauspickte und als Familie vor der Kamera aufstellte.

Es war ein Gefühl, als würde ich gerade Gott spielen, oder als hätte ich endlich die Zeitmaschine erfunden.

Die im Family Constellation Project entstehenden Familienfotos entsprechen weder einem schlüssigen noch einheitlichen Familienbild. Man kann sie weder logisch erklären noch begründen.

Wie bei einem Stilleben steht und fällt der Wahrheitsgehalt der Fotos mit dem Betrachter: der Realitätsbezug - also das, was das Foto durch das Motiv scheinbar darstellt, wird durch die Wahrheit - das, was als Nachgeschmack bei Betrachter übrig bleibt - ersetzt.

Ein sehr wichtiger Teil des Family Constellation Projects ist die erneute Erfindung einer Familiengeschichte durch Schriftsteller; komplementär zu den Fotos schreiben Autoren unterschiedlicher Länder zu jeder Familienkonstellation eine Geschichte.

Ein abschließendes Buch wird ungefähr zweihundert ausgewählte Familienportraits und die dazugehörigen Familiengeschichten umfassen.

Auf dieser Internetpräsenz kann man sich über den aktuellen Stand der Arbeit wie auch über Ausstellungen im In- und Ausland informieren. Im Pressebereich stehen alle bislang veröffentlichten Texte zum Projekt als PDF zur Verfügung.



Exposé


Alexander von Reiswitz fotografiert Familien. Unterschiedlich große Familien, mit Mitgliedern mehr oder weniger Generationen, in unterschiedlichen Ländern und immer auf der Straße aufgenommen. Alles wie in diesem Genre üblich - mit einer einzigen Ausnahme: Die Menschen dieser Fotos sind alles mögliche, aber keine Familie. Bevor sie von Reiswitz auf der Straße auswählte und zu einer Gruppe zusammenstellte, die eine Familie darstellen soll, kannten sie sich noch nicht einmal.

Alles wie immer und doch ganz anders. Ein Betrachter seiner Fotos schrieb einmal folgenden Satz: "Wie ein Klassischer Astronom, der sein Teleskop zum Himmel richtet, um unter den unendlichen Konstellationen, die er durch seine Röhre staunend wahrnimmt, sich Wege sucht, die Außenwelt zu erschließen, so richtet von Reiswitz sein Objektiv in Richtung Familien, die er selbst zuvor erfunden und hergerichtet hat."

Die Wirklichkeit, die v. R. improvisiert, ist eine Lüge. Doch der Betrachter der Fotos stellt eine Wahrheit (wieder) her, die sich hinter dieser Lüge verbirgt. Eine Wahrheit, die in dem Augenblick entsteht, in dem er erfährt, dass er gar keine echten Familien sieht. "Ich kann absolut sicher behaupten," sagt AvR, "dass die Wahrheit das ist, was als Nachgeschmack übrig bleibt, wenn man ein Foto gesehen hat. Die Realität ist das, was das Foto durch das Motiv vorgibt zu sein."

Auch wenn der Fotograf als Arrangeur, als Regisseur selbstverständlich sein eigenes Bild der Rollen hat, die er den zufällig anwesenden Passanten zuweist, so lässt er dem Betrachter dennoch jeglichen Raum zu jeglicher Interpretation. "Weil der Nachgeschmack immer am wichtigsten ist, weil er am Langlebigsten ist und weil er mit der Inneren Wahrheit eines Menschen in Kommunikation tritt. Wenn der Nachgeschmack nicht passt, dann spült das Gehirn alles wieder raus." (AvR)

Diese Kommunikation findet auch zwischen den Protagonisten der "Familien" statt, und sei es nur für die wenigen Augenblicke der Fotoaufnahme. Sie identifizieren sich mit den Rollen, die sie spielen sollen, sie wollen eine "echte" Familie sein, wenigstens für ein paar Sekunden. Sie sollen – und wollen – eine "Privatheit spielen [...] und vielleicht mehr Geborgenheit vermitteln, als sie diese Menschen sonst verspüren." (Freddy Langer: New York, Tokio, Heusenstamm. In: FAZ Nr. 296 v. 20.12.2007)
Manchmal geht ihre Kommunikation auch darüber hinaus, sie kommen miteinander ins Gespräch, tauschen Telefonnummern, wollen in Kontakt bleiben.

AvR sieht sich mit seiner Konstruktion der Wirklichkeit in der Tradition der "Jäger-Fotografen", die sich nicht mit dem Abbilden der Realität begnügen. Er stellt eine neue, seine eigene Realität her und gibt damit den Betrachtern seiner Fotos die Möglichkeit, dies ebenfalls zu tun.

"Bei meinem Familienprojekt", beschreibt AvR seinen Ansatz, "gibt die Struktur genau das Gegenteil dessen vor, was am Ende herauskommen soll. Und das gefällt mir. Ich erfinde hunderte von Male Familien, ich klaube mir die Menschen von der Strasse heraus, die zufällig am gleichen Ort waren, renne Ihnen manchmal hinterher wie ein Bettler, lasse sie als Familien vor mir stehen, mache Fotos. Es ist wie eine kontrollierte Zeitverzögerung, in der man sich, wie beim Schachspiel, in einem Gesamtereignis befindet, ein Drama, aber eben ein Spiel, und mit richtigen Menschen. Die Kombinationen sind unendlich, so auch beim Schachspiel. Durch die Zeitverzögerung und Improvisation während des Findens, Zusammenstellens und Fotografierens von so genannten erfundenen Familienmitgliedern, geht die Auseinandersetzung mit dem übergeordneten Thema FAMILIE auf abstrakter Ebene weiter.

Es ist was anderes, ob ich mich hinsetze und über FAMILIE nachdenke, oder ob ich auf der Strasse stehe, und mir eine erfundene Welt zusammenbaue, wie ein Architekturmodell, um mir mal ein Paar Möglichkeiten anzuschauen und gleichzeitig das eigentliche Fotoprojekt voran bringe."

Ein ähnlicher Prozess findet im Betrachter statt. Er sieht die Menschen der Fotos und stellt sie zu "seiner" Familie zusammen, arrangiert sie neu oder weist ihnen die Rollen zu, für die sie auch der Fotograf vorgesehen hat. Kino im Kopf, wobei auch beim Betrachter die Assoziationen über die Imagination der dargestellten – vielmehr darstellenden - Familien hinausgehen. Sie finden auf der Ebene der abstrakten Familie ebenso statt wie auf der konkreten, der eigenen Familie. Oder wie AvR seine Rolle auch beschreibt: Die eines Zeitreisenden, der Familie nur mehr aus Erzählungen kennt, selber aber keine hat und sich jetzt beim Betrachten vorzustellen versucht, wie das einst war, Familie zu sein und zu haben. "So sind auch Reiswitz‘ Familienporträts nicht frei von einem Hauch Melancholie. Sie sind erlogen, und doch blitzt in ihnen ein Moment von Wahrheit auf." (Langer)

Somit scheint es auch nicht vermessen, von Reiswitz‘ Familien-Portäts in die Tradition der großen Ausstellung "Family of Man" zu stellen, in der "zum einen, die Unterschiede der Menschen auf der Welt betont [werden], die Vielfalt ihrer Lebensweisen und Gebräuche, zum anderen [...] aus diesem Pluralismus alles zu einer wesensgleichen Einheit verschmolzen [wird]: Geburt, Tot, Arbeit, Wissen, Spiel verlangen überall das gleiche Verhalten; es gibt eine Familie der Menschen." (Gabriele Röttger-Denker: Roland Barthes zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag, 1997. Seite 16)



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